Die lettische Mezzosopranistin Elina Garanča trauert um ihre Mutter, die im Juli "gegangen ist". Nach ihrem Tod konnte Garanča einige Zeit lang nicht singen. Nun ist sie an der Wiener Staatsoper in Jules Massenets "Werther" zu sehen.
Im Juli dieses Jahres ist Ihre Mutter gestorben. Sie wussten schon lange Zeit, dass sie sehr krank ist. Auf den Abschied kann man sich dennoch nicht vorbereiten, oder?
Elina Garanča: Ich glaube, die Mutter zu verlieren, den Menschen, der dich im eigenen Bauch getragen hat, darauf kann man sich nicht vorbereiten. Meiner Mutter ging es zwar in den letzten Wochen von Stunde zu Stunde schlechter, aber sie war wenigstens am Leben, auch wenn sie sich nicht mehr bewegt, nicht mehr gesprochen hat. Aber sie war immerhin noch da. Wir wussten zwar schon lange, dass sie sterben wird, aber das hat es nicht einfacher gemacht. Denn egal, ob jemand plötzlich aus dem Leben gerissen wird oder er langsam geht, in beiden Situationen ist man als Angehöriger eines: hilflos.
Sicher.
Und wir wollten auch bis zum Schluss, so gut es ging, den Alltag leben. Wir wollten uns gerade nicht verabschieden. Wir haben ihren Tod verdrängt, wir wollten nicht darüber nachdenken, obwohl wir alle wussten, dass der Tag kommen wird. Ich habe auch viel darüber nachgedacht, ob es jetzt gut wäre, meiner Mama noch all das zu sagen, was ich ihr noch nicht gesagt habe. Aber ich habe es nicht getan.
Vielleicht war das ja auch gar nicht notwendig.
Erstens war es nicht notwendig, zweitens frage ich mich auch, was solche Gespräche überhaupt bringen sollen. Man kann ja nicht ändern, was in der Vergangenheit passiert ist. Sage ich ihr, was mich gestört hat, wird sie entweder sagen, dass sie trotzdem richtig gehandelt hat. Oder aber sie leidet, weil sie dann weiß, dass sie mir wehgetan hat. Beide Situationen sind blöd. Also was man im Leben schon geschafft hat zu sagen, hatte man halt zu sagen. Das andere nicht. Es hat mehr mit dem eigenen Egoismus zu tun, wenn es mir nur darum geht, mich selbst mit offenen Worten von irgendeiner Last zu befreien. Unter ihr hätte dann dafür meine Mutter leiden müssen.
Sie waren Ihrer Mutter sehr nah.
Ja, sie war auch meine Freundin, meine Lehrerin. Sie war sehr streng, manchmal zu streng. Sie hat mich gefordert, manchmal überfordert. Aber deshalb weiß ich in Krisensituationen, wie ich mich zu verhalten habe. Gleichzeitig war meine Mama ein sehr herzlicher Mensch. Alles, was sie getan hat, machte sie aus Liebe. Und sie hat mir beigebracht, was Moral ist, und was es heißt, eine Familie zu sein. Es war für mich deshalb völlig klar, dass ich bei ihr sein werde, wenn es soweit ist.
Sie haben nach dem Tod Ihrer Mutter einige Zeit lang nicht gesungen.
Es hat mich gar nicht interessiert, und ich konnte auch nicht. Ich hatte keine Stimme. Wenn man viel weint, strengt man dieselben Bauchmuskeln an, die man für das Singen braucht. Erst als ich nach einigen Wochen wieder zu Hause mit meinen Töchtern war, spürte ich, dass ich wieder etwas tun will und habe langsam, langsam wieder begonnen. Ich habe die Partitur von „Werther“ zu Hand genommen – und wieder weggelegt. Denn Charlotte, die ich singe, spricht im ersten Akt über ihre sterbende Mutter. Das konnte ich noch nicht.
Und wie ist es jetzt, wo Sie schon die ersten „Werther“-Vorstellungen gesungen haben?
Es geht sehr gut. Aber ich habe Matthew (Anm.: Der Tenor Matthew Polenzani singt den Werther) gesagt, wenn er zum Schluss stirbt, soll er bitte die Augen zu machen. Ich kann das nicht. Denn ich habe auch Mamas Augen geschlossen.
Fürchten Sie sich vor dieser Szene?
Nein, denn sie ist schon ganz am Schluss.
Für „Werther“ haben Sie zwei Wochen geprobt. Sie sind kein Fan langer Probezeiten.
Ich finde kürzere Probezeiten viel effizienter. Denn 95 Prozent der Sänger brauchen keine sechswöchigen Proben.
Hängt von deren Vorbereitung ab.
Natürlich, aber gute Vorbereitung setze ich voraus, das ist eine Frage der Moral. Nur wenn du deinen Part beherrscht, bist du frei und kannst auf den anderen reagieren. Im Grunde dekorieren wir gemeinsam einen großen Schokokuchen. Singt Matthew, dekoriert er ihn mit seinen Blumen, singe ich, schmücke ich ihn mit meinen. Und es ist wunderbar, denn wir helfen uns gegenseitig dabei.
Im Idealfall sind die Sänger ein Team.
Ja, wenn das nur immer so wäre! Es gibt Sänger, und es gibt Sänger. Manche denken nur „for me, myself and I“.
Was machen Sie dann?
Ich schlage zurück und sage ihnen, was notwendig ist: „Diva spielen, das geht bei mir nicht. Ich könnte auch Diva sein, aber ich finde, es ist nicht notwendig.“ Aber ich bin privilegiert. Wenn mir eine Rolle angeboten wird, frage ich, welche Sänger für die anderen Partien vorgesehen sind. Wenn ich das Gefühl habe, es könnte schwierig werden, dann mache ich es nicht.
Sie haben zwei kleine Töchter und schaffen es dennoch, oft auf der Bühne zu stehen. „Nur Mutter zu sein, ist mir zu wenig“, sagten Sie einmal. Das fand ich sehr ehrlich.
Ja, weil wir Frauen sind, die emanzipiert und unabhängig sein wollen. Weshalb soll ich mich schämen, mich damit allein nicht wohl zu fühlen? Und es wäre mir auch zu wenig, nur Sängerin zu sein. Mag sein, dass es für eine Frau, die mit 18 Jahren heiratet und Kinder kriegt, genug ist. Denn sie kennt ja auch nichts anderes. Sie weiß auch nicht, wie es ist, im Berufsleben in einem Wettbewerb zu stehen. Wobei sich mit der Geburt meiner Töchter natürlich alles geändert hat. Die kleinen beruflichen Niederlagen sind gar nicht mehr so wichtig. Aber das heißt nicht, dass ich nicht immer noch ehrgeizig bin. Ich will meinen Namen immer noch verteidigen, nur – anders als früher – nicht mehr an 80, sondern nur mehr an 45 Abenden im Jahr.
Wo sind Ihre Töchter jetzt?
In Spanien, mit meinem Mann (Anm.: Garanča ist mit dem Dirigenten Karel Mark Chichon verheiratet). Am Wochenende kommen sie zu mir nach Wien. Mein Mann und ich versuchen immer, unsere Terminkalender so abzustimmen, dass die Kinder zumindest mit einem Elternteil zusammen sind.
Aber wann sehen Sie denn dann Ihren Mann?
Ja, das ist es eben. Wie ich hierhergeflogen bin, habe ich realisiert, dass ich meinen Mann zum ersten Mal gleich fünf Wochen nicht sehen werde. Ich habe ihm das noch gar nicht gesagt. Wir hatten bisher immer die Regel, nie mehr als drei Wochen getrennt zu sein.
Fünf Wochen sind schon sehr lang.
Sehr lang. Ich fühle mich verloren. Und ich denke, wenigstens einen Tag werde ich zu ihm nach Berlin fliegen, um ihn doch sehen zu können.
Wenn Sie hier ohne Kinder sind, gelingt es Ihnen, die Zeit zu genießen?
Wenn die Kinder nicht da sind, komme ich endlich dazu, etwas auswendig zu lernen und an meiner Stimme zu arbeiten. Wenn ich zu Hause bin, geht das kaum. In dieser Woche habe ich alles konzentriert: die Proben, die Vorbereitungen, die geschäftlichen Termine, die Interviews. Das ist intensiv, jede Stunde ist verplant. Aber mir ist das recht, denn ich bin unter Zeitdruck produktiver. Und dafür habe ich, wenn Cathy und Cristina zu mir kommen, wirklich viel Zeit für sie. Von ihnen bekomme ich so viel Kraft.
Sie sagten, Ihre Mutter hat Sie gelehrt, was Familie ist. Was ist Familie?
Die Familie sind die sieben, acht Menschen, um die sich mein ganzes Leben dreht. Wenn man jung ist und gierig nach Erfolg, soll das auch so sein. Und sobald man einen Partner hat, geht man auf ihn ein. Aber wenn die Kinder da sind, dreht sich alles nur mehr um sie. Ihnen soll es gut gehen. Ich nehme auf meine Familie sehr viel Rücksicht. Nächstes Frühjahr sind wir alle für zwei Monate in den USA. Darauf freue ich mich, wenngleich ich sagen muss, dass ich dort an der Metropolitan Opera nicht meine absolute Traumrolle singen werde.
Welche ist das?
Die Sara in Donizettis „Roberto Devereux“. Stimmlich ist sie sehr hoch, also nicht gerade die Richtung, in die ich mich entwickle. Aber wichtiger ist, dass mein Mann mit Giacomo Puccinis „Butterfly“ an der New Yorker Metropolitan sein Debüt hat. Und da will ich bei ihm sein. Deshalb habe ich die Rolle dennoch gern angenommen. Denn zwei Monate in den USA zu sein, ohne etwas zu tun, das ist ja auch nicht so interessant.
Frau Garanča, darf man Sie auch fragen . . .
1 . . . ob Sie mit Ihren Töchtern viel in die Oper und ins Theater gehen?
Ja, klar. In Lettland haben sie jedes Puppentheater gesehen, wir waren in der Kinderoper, wir machen soviel, wie es geht. Ich finde, man muss sich die Mühe machen, den Kindern alles anzubieten. Das heißt ja nicht, dass man in der Wiener Staatsoper in der ersten Reihe Parkett sitzen muss. Man kann sich ja Aufführungen anschauen, die nicht auf dem höchsten Niveau sind. Vergangenes Wochenende waren wir in Spanien im Theater und haben einen Pantomimen gesehen. Zuhause konnte ich dann beobachten, wie die Kinder versucht haben, ihn nachzumachen.
2 . . . ob Ihr Mann viel in die Kinderbetreuung involviert ist?
Immer mehr. Im ersten Jahr habe ich gestillt, was sollte er da machen? Jetzt übernimmt er sehr viel. Mit meiner älteren Tochter ist es ein besonders inniges Zusammensein, eines, dass es zwischen Mutter und Tochter so gar nicht geben kann. Ich bin die Strengere, Papa verwöhnt sie.
Steckbrief
1976 wurde Elina Garanča in Riga geboren und wuchs in einer sehr musikalischen Familie auf. Sie studierte Gesang an der Lettischen Musik-Akademie und bei ihrer Mutter.
1999 gewann sie beim internationalen Mirjam-Helin-Gesangswettbewerb in Finnland.
2003 gelang ihr der internationale Durchbruch bei den Salzburger Festspielen, wo sie den Annio in Mozarts „La clemenza di Tito“ sang.
2004 debütierte sie an der Wiener Staatsoper als Charlotte in „Werther“. In dieser Partie ist sie derzeit auch an der Staatsoper zu sehen.
Garanča singt an allen großen Opernhäusern der Welt. Sie ist mit dem Dirigenten Karel Mark Chichon verheiratet. Das Paar hat zwei Töchter.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.11.2015)
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